Christian Uhle ist Philosoph und Autor, der sich mit Digitalisierungsthemen beschäftigt. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Künstliche Intelligenz und echtes Leben: Philosophische Orientierung für eine gute Zukunft“ thematisiert er KI und deren Auswirkungen auf Fragen der Sinnfindung.
ARIC: Warum erscheint es dir wichtig, über KI und Sinn zu sprechen?
Christian Uhle: Ich habe mich sehr lange mit der Frage nach Sinn auseinandergesetzt und festgestellt, dass ein häufiges Missverständnis darin besteht, die Suche nach Sinn sei eine private Angelegenheit.
Diese Perspektive blendet aus, dass Sinn sehr stark in einem sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhang entsteht. Wir sind immer auch von äußeren Strukturen und Kontexten abhängig, um unser Leben als sinnerfüllt wahrnehmen zu können. Für mich ist nun eine Frage, inwieweit Künstliche Intelligenz diese Strukturen ändert. KI wirkt auf ökonomische Strukturen, auf das Miteinander, auf die medizinische Entwicklung, auf wissenschaftliche Erkenntnisse, auf Grundlage derer dann wiederum neue Technologien entwickelt werden, die dann wiederum gesellschaftliche Wertesystem prägen. Das heißt, dass sich unser Leben und unsere Gesellschaft entlang verschiedener Ebenen tiefgreifend verändern. Eine Frage, die damit verbunden ist, ist eben, ob diese Transformation dazu führt, dass wir bessere Möglichkeiten haben, unser Leben als sinnerfüllt wahrzunehmen.
Du hast selber zitiert, „Technik ist die Art und Weise, wie mit der Welt in Beziehung treten.“ Wie treten wir durch KI mit der Welt in Beziehung?
Nehmen wir das Beispiel einer blinden Person, die nun durch Künstliche Intelligenz die Möglichkeit hat, sich bei jedem Schritt, den sie geht, von der KI detailliert beschreiben zu lassen, was um sie herum ist. Das verändert die eigene Autonomie, aber eben auch den eigenen Bezug zur Welt tiefgreifend. Und so ist es auch, wenn Menschen durch KI ihren Tagesablauf mitgestalten lassen, weil sie sich auf eine KI-Assistenz verlassen. Dann wirkt KI unmittelbar auf die Art und Weise, das Leben zu gestalten. Das sind nur zwei Beispiele von vielen.
„Eine Schlüsselfrage ist immer, ob Künstliche Intelligenz die menschliche Autonomie stärkt oder schwächt. In beide Richtungen gibt es massive Potenziale.”
Kann man verallgemeinern, inwiefern genau beispielsweise solche Apps für Sehbehinderte sich auswirken?
Eine Schlüsselfrage ist immer, ob Künstliche Intelligenz die menschliche Autonomie stärkt oder schwächt. In beide Richtungen gibt es massive Potenziale. Bei dem Beispiel dieser blinden Person haben wir ein großes Potenzial einer Stärkung der Autonomie.
Gleichzeitig besteht eine große Gefahr darin, dass wir manipulierbarer werden durch Künstliche Intelligenzen, die immer zutreffender und differenzierter Persönlichkeitsprofile erstellen, die dann eine Grundlage bieten können, uns in eine bestimmte Richtung zu manipulieren. Und Gefahr besteht auch deshalb, weil nicht-denken bequem sein kann. Wenn wir nun beginnen sollten, als Gesellschaft immer mehr Entscheidungen, seien sie klein oder groß, an eine KI auszulagern, dann müssen wir sehr genau hinschauen, dass wir die Fähigkeit, selbst Entscheidungen zu treffen und selbst nachzudenken, in diesem Prozess nicht schwächen. Dabei geht es auch um politische Entscheidungen, um Bildungspolitik oder Gesundheitspolitik: Wo werden welche Ressourcen allokiert? Und auch privat: Was soll ich heute anziehen? Was ist das passende Outfit für die Arbeit oder für die Party? Die Frage mag isoliert betrachtet sein, aber im Zusammenspiel der vielen Fälle können die Fähigkeiten, eigene Urteile und Entscheidungen zu fällen, geschwächt werden.
Gibt es einen aktuellen Anwendungsfall, der dich beschäftigt?
Ich denke, dass das auch beim Schreiben so ist. Es werden ja jetzt zunehmend Blogbeiträge und Social Media Posts KI-gestützt erstellt. Das ist wahrlich nicht in jedem Falle problematisch. Aber es ist natürlich so, dass die eigenen Gedanken zu formulieren, sich die Zeit dafür zu nehmen, auch wenn es etwas länger dauert, dass dieser Prozess hilft, die eigenen Gedanken zu schärfen. Es ist ein Teil der inneren Auseinandersetzung. Und ich denke, das gilt in gewisser Hinsicht sogar bei einem simplen Post.
Bei mir als Autor ist es noch intensiver, wenn ich Bücher schreibe. Da ist es so, dass ich viel recherchiere und bereits strukturiere, bevor ich ein Kapitel schreibe und ich habe ganz viele Notizen und ich weiß im Großen und Ganzen, was ich dort schreibe. Aber wie bei fast jeder Person, die schreibt, ist es auch bei mir so, dass während ich schreibe, immer noch mal einzelne Gedanken und Verknüpfungen entstehen. Dieser Prozess wirkt auf das Ergebnis und ist Teil des Philosophierens, er wirkt auf meine eigene Position und Perspektive. Und wenn man jetzt versucht, da einen Shortcut zu nehmen und direkt zum Ergebnis zu springen und diesen Prozess auszulassen – Könnte das nicht ein Element sein, wo Autonomie geschwächt wird?
„Jetzt ist die Zeit, aktiv Weichen zu stellen und die Entwicklung bewusst zu gestalten.”
Im Oktober dieses Jahres wurde verkündet, dass zwei Pioniere des Machine Learning den Nobelpreis erhalten haben. Einer dieser Nobelpreisträger hat sich öffentlich sehr drastisch geäußert und gesagt, er sieht die aktuellen KI-Entwicklung kritisch. Wie siehst du die ganzen Hoffnungen, die da auf dem Thema KI lagen? Haben die sich bestätigt oder sind sie passé?
Es ist viel zu früh, um Bilanz zu ziehen. Unterm Strich stehen wir erst am Anfang der Entwicklung, auch wenn seit Jahrzehnten schon daran geforscht wird. Jetzt ist die Zeit, aktiv Weichen zu stellen und die Entwicklung bewusst zu gestalten. Was ich nicht glaube, ist, dass die Entwicklung gewissermaßen automatisch in eine positive Richtung laufen wird. Gerade von Seiten der Tech-Industrie wird immer wieder ein ökonomischer Optimismus verbreitet, aber es kann durchaus Zielkonflikte geben zwischen dem Eigeninteresse eines Unternehmens und dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse.
Ein zweiter Optimismus, der Teil der gesellschaftlichen Moderne ist, ist der Glaube an einen technischen Fortschritt, der uns auf eine höhere Zivilisationsstufe hebt und zu einem besseren Leben verhilft. Technologie hat viele Vorteile, aber sie kann auch negative Effekte haben.
Wir sehen jetzt, dass zum Beispiel ein Nebeneffekt der ganzen Industrialisierung der menschengemachte Klimawandel ist. Das war ja zum damaligen Zeitpunkt weder bekannt noch gewollt. Das ist ein unintendierter Nebeneffekt der Industrialisierung. Und so ist es auch jetzt, glaube ich, mit der KI. Es gibt keine Garantie für eine positive Entwicklung. Wenn wir in einer wunderbaren Zukunft landen wollen, dann müssen wir das ganz aktiv, bewusst und gezielt in die Hand nehmen.
Wer ist dieses „Wir“, das die Zukunft in die Hand nehmen muss?
Dieses Wir hat verschiedene Verantwortungsebenen, die man nicht gegeneinander ausspielen sollte. Eine Ebene ist die individuelle, also dass man wirklich selbst überlegt: Wie geht man damit um? Auf welche Technologien greift man wie zurück und wie integriert man sie ins eigene Leben? Eine zweite Verantwortungsebene ist die organisationale Ebene –das Unternehmen, die Institution, die Schule und so weiter. Man sollte man sich in Ruhe fragen: Wie wollen wir in unserer Organisation KI verankern? Die dritte Ebene ist die gesellschaftliche und politische Ebene. Es liegt natürlich Verantwortung bei uns allen als Bürgerinnen und Bürger, die Teil demokratischer Diskurse und Prozesse sind, aber auch bei der Politik.
Bei wem trifft deine Arbeit typischerweise auf Interesse?
Ich halte schon seit vielen Jahren Vorträge zu Digitalisierung. Das Interesse ist vielfältig, aber das Hauptinteresse kommt von Unternehmen.
Braucht die Tech Bubble mehr Philosophie?
Ich bin überzeugt: Ja. Denn wir leben in einer Zeit weitreichender Umbrüche. Das wirft zahlreiche Grundsatzfragen auf. Und Grundsatzfragen sind immer auch philosophische Fragen. Damit das Zusammenspiel gelingt, muss man sich als Philosophin oder Philosoph natürlich fragen: Wie kann ich eine relevante Sprache finden? Welche Beispiele wähle ich?
Was ist deine Vision von einem guten oder zumindest besseren und sinnerfüllteren Leben mit KI?
Ich persönlich bin eine Person, die unter Bürokratie leidet. Es würde mir Freiräume eröffnen, wenn KI für mich die bürokratischen Abläufe übernehmen könnte.
Meinst du damit beispielsweise Rechnung schreiben, Steuererklärung und die vergleichbaren Freuden der Selbstständigkeit?
Genau, all das, was damit zusammenhängt.
Ist das auch deine allgemeine Vision? Bürokratieabbau durch KI?
Ich finde es wirklich aufregend und bin gespannt, was passiert. KI stellt in so vielen Feldern einen Hebel dar. Nehmen wir mal die Geschichtswissenschaften. Es ist nicht möglich, so viele Historikerinnen und Historiker auszubilden, dass sie alle Archive lesen oder auswerten könnten. Das ist unmöglich. Doch jetzt, mit KI, können plötzlich Massen an Quellen ausgewertet und in Zusammenhang gebracht werden. KI kann ja nicht nur lesen, sondern eben wirklich auswerten!
Deshalb gehe ich davon aus, dass zum Beispiel der sogenannte Fortschritt, dass die neuen Erkenntnisse im Bereich der Geschichtswissenschaften in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sich in einem deutlich höheren Tempo vollziehen werden als bisher. Weil es eben nicht nur so ist, dass Historikerinnen und Historiker plötzlich ein neues Tool zur Verfügung haben, sondern es ist, als ob sie ein gigantisches Team von Assistenzen hätten, welches für sie die Quellen durchforstet.
Warum sagst du der „sogenannte Fortschritt“. Warum die Anführungszeichen an der Stelle?
Weil der Begriff des Fortschritts häufig mit Technologie assoziiert wird. Aber wahrer Fortschritt besteht, wenn eine Gesellschaft zusammenwächst, wenn es mehr Gerechtigkeit gibt, wenn Leute in Frieden, in Glück, in gesunden Beziehungen gewaltfrei miteinander leben. Das ist eigentlicher Fortschritt und nicht die Frage, ob wir jetzt von HD auf 4k-Displays aufrüsten.
Es gibt ein Tool, das soll Menschen helfen, die rassistische Übergriffe erlebt haben. Sie können dann mit einem Bot, der auf ChatGPT basiert, darüber chatten. Ich war da spontan erst mal skeptisch.
Was soll denn dieser Bot machen? Empathisch sein?
Ja, genau, das war die Idee.
KI-Systeme werden immer besser darin, Empathie zu simulieren. Aber das ist und bleibt eine Simulation. Sie können uns das Gefühl geben, verstanden zu werden, aber wir werden nicht wirklich verstanden. Sie können uns das Gefühl geben, Sinn zu erfahren, aber wir erfahren eben keinen echten Sinn. Es ist ein Budenzauber, der eine Illusion kreiert, die sich für uns gut anfühlen kann. Das Ganze hat dann einen Wert, wenn solche Gespräche beispielsweise die betroffenen Personen darin stärken, in zwischenmenschlichen Beziehungen sich zu öffnen und in Beziehung zu treten.
Es gibt natürlich jetzt die Perspektive: Naja gut, aber wenn es sich halt für die Leute gut anfühlt. Wenn es eben das Gefühl von Empathie vermittelt, dann ist es doch OK. Ist doch egal, ob es dann ein Mensch ist oder eine KI. Naja, ist es halt eben nicht! Im Kern ist das Bedürfnis danach, verstanden zu werden, nicht das Bedürfnis nach irgendeinem Theater, sondern das Bedürfnis nach echtem Verständnis. KI kann nie auf einer substanziellen, wahrhaftigen und authentischen Ebene das erfüllen, was wir als Menschen wünschen.
Das Buch „Künstliche Intelligenz und echtes Leben” von Christian Uhle ist am 9. Oktober 2024 bei S. Fischer erschienen. Darin setzt sich der Autor mit den Sinnversprechen der KI auseinander. Dazu betrachtet er viele Studienergebnisse, die er mit philosophischen Überlegungen und Theorien stimmig verbindet. Im ARIC-Team wurde dieses Buch gern gelesen und für seine Aktualität und klare Argumentation geschätzt.
Wie blickst du in diesem Zusammenhang auf Onlinedating, welches du auch in deinem Buch besprichst?
Onlinedating ist in Deutschland mittlerweile die häufigste Art, wie Menschen sich kennenlernen und ist insofern ein entscheidender Strukturmechanismus unserer Gesellschaften. Onlinedating und das Design und die Algorithmen der Plattformen bestimmen also sehr wesentlich, wer mit wem Zeit verbringt in dieser Gesellschaft, wer mit wem in Urlaub fährt, wer mit wem Sex hat, wer sich mit wem fortpflanzt, wer sich gegenseitig prägt.
Das ist nicht unbedingt problematisch. Wir sehen beispielsweise, dass die soziale Durchmischung bei Paaren, die sich online kennengelernt haben, höher ist. Die Bildung von Filterblasen ist schwächer ausgeprägt als im Analogen. Ich würde das als positiv bewerten.
Aber wenn Menschen noch niemanden gefunden haben, wenn sie auf der Suche sind und diese Apps benutzen, lassen sich eben häufig negative psychische Effekte auf die Nutzenden feststellen. Das ist auch in verschiedenen Studien getan worden. Das hängt viel damit zusammen, dass die große Masse an angeblichen potentiellen Partnerinnen und Partnern. Überforderungen auslösen kann und auch hohen Wettbewerbsdruck. Das wiederum steigert die Angst bei Menschen, Single zu bleiben. Es führt interessanterweise eher zu einem Pessimismus als zu einem Optimismus, wenn man Datingapps intensiv nutzt.
Eine häufig von den Herstellern der Apps formulierte Zukunftsvision besteht darin, dass KI noch wesentlich stärker als bisher bestimmt, wen man überhaupt zu Gesicht bekommt. Der Witz am Onlinedating ist aktuell das Quantitätsprinzip: Es ist analog unmöglich, an einem Tag 400 potenzielle Partnerin oder Partner anzuschauen und zu bewerten. Online ist es möglich. Nun gibt es Pläne, von diesem Quantitätsprinzip zu einem Qualitätsprinzip zu wechseln. KI stellt dann nicht nur fest, wer wen nach rechts oder links swipt, sondern erstellt auch Persönlichkeitsprofile: Wer schreibt mit welcher Wortwahl und mit welcher Geschwindigkeit? Auf je mehr persönliche Daten ich die KI zugreifen lasse, desto besser wird das Persönlichkeitsprofil sein, das die KI von mir erstellt und desto treffsicherer wird sie potenziell vorhersagen können, ob ich zu einer Person passe oder nicht. Es gibt allererste Umfragen, die darauf hindeuten, dass Menschen um der Liebe willen bereit sind, massiven und umfassenden Zugriff auf ihre Daten zu gewähren. Der Wunsch nach Liebe ist sehr groß, er ist größer als der Wunsch nach Datenschutz.
Gibt etwas, das gerade deinen KI Optimismus nährt?
Ich weiß von Leuten, die keine deutschen Muttersprachler sind, dass sie mittlerweile jede E-Mail, die sie schreiben, bevor sie sie abschicken, durch die KI schießen und dass dies für sie einen großen Fortschritt darstellt, weil sie am Arbeitsmarkt als professioneller wahrgenommen werden. Es existieren ja Vorstellungen von Professionalität, die Gewinner und Verlierer erzeugen. Dazu gehört es, dass eine E-Mail ohne grammatische Fehler formuliert wird – unabhängig von der Qualität ihres Inhalts. Hier haben wir meines Erachtens ein positives Beispiel, wo KI tatsächlich Ungleichheiten schließt. In vielen anderen Bereichen sehe ich eher die Gefahr, dass sich Ungleichheiten verschärfen.
„Wenn sich zum Beispiel immer mehr Menschen durch eine KI kennenlernen und verlieben, dann werden die Strukturen, wer mit wem in Beziehung ist, noch stärker zentralisiert”
In welchen Bereichen verschärfen sich die Ungleichheiten durch KI?
Vor allem natürlich in der Arbeitswelt. Hier ändern sich die notwendigen Fähigkeiten von Menschen, was wiederum veränderte Gewinner-Verlierer-Strukturen mit sich zieht. Aber auch in Bereichen, die zunächst ganz privat wirken, sollten wir hinschauen. Wenn sich zum Beispiel immer mehr Menschen durch eine KI kennenlernen und verlieben, dann werden die Strukturen, wer mit wem in Beziehung ist, noch stärker zentralisiert und werden geprägt durch einzelne privatwirtschaftlich agierende Akteure. Und das ist durchaus etwas, was aus einer demokratietheoretischen Perspektive problematisch ist. Weil diese Strukturen nicht transparent sind. Das ist, glaube ich, etwas, was jetzt nicht zwingend gegen den Einsatz des Ganzen spricht, aber was ein kritisches Potenzial hat und wir deshalb gut im Auge halten sollten.
Interview: Sabrina Pohlmann
Mit unseren Interviews wollen wir euch verschiedenen Perspektiven und Akteure im Themenfeld KI vorstellen. Die Positionen unserer Interviewpartner:innen spiegeln nicht zwingend die Positionen des ARIC wider.
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